Hunde sind keine Kinder? Stimmt! ABER..
Unterschiede anerkennen – Parallelen verstehen
Oft hört man den Satz: „Ein Hund ist kein Kind.“ Das stimmt – Hunde sind keine Menschen, und ihre biologischen Grundlagen unterscheiden sich. Doch zugleich zeigen zahlreiche Studien, dass sich Hunde in ihrem Sozialverhalten, in Bindungsmustern und in ihrer emotionalen Entwicklung erstaunlich stark mit Kindern vergleichen lassen. Wer den Blick nur auf die Unterschiede lenkt, übersieht diese wissenschaftlich belegten Parallelen – und riskiert, Bedürfnisse von Hunden zu missachten.
Der Strange Situation Test – Bindung sichtbar gemacht
Eines der bekanntesten Verfahren der Entwicklungspsychologie ist die Strange Situation (Ainsworth, 1970). Kinder werden in einer fremden Umgebung von ihrer Bezugsperson getrennt und wiedervereint; ihr Verhalten erlaubt Rückschlüsse auf Bindungstypen.
Dieses Testverfahren wurde in den letzten Jahren auch auf Hunde übertragen. Ergebnisse zeigen:
Hunde verhalten sich gegenüber ihren Bezugspersonen ähnlich wie Kinder gegenüber Eltern (Topál et al., 1998).
Sie suchen Nähe, Sicherheit und emotionale Rückversicherung.
Sie zeigen Trennungsstress, aber auch deutliche Freude bei Wiedervereinigung (Prato-Previde et al., 2003).
Die Parallelen sind so stark, dass viele Forscher:innen die Mensch–Hund-Beziehung mittlerweile im gleichen Sinne als Bindungskomplex verstehen wie die Eltern–Kind-Beziehung.
Entwicklung, Bedürfnisse und Abhängigkeiten
Kinder sind in ihren frühen Jahren vollständig auf Erwachsene angewiesen – für Nahrung, Schutz, emotionale Sicherheit und vieles mehr. Auch Hunde, selbst erwachsene, sind in vielen Bereichen abhängig von Menschen: Futter, medizinische Versorgung, Sicherheit und soziale Orientierung.
Beide Arten teilen grundlegende Bedürfnisse:
Sicherheit: Verlässliche Strukturen, die Schutz vor Gefahren geben.
Soziale Nähe: Körperkontakt, Zuwendung, gemeinsames Erleben.
Exploration: Die Welt erkunden, Neues lernen – mit Rückhalt einer sicheren Basis.
Regulation: Unterstützung beim Umgang mit Stress, Angst und Frustration.
Studien zeigen, dass Hunde – wie Kinder – eine „sichere Basis“ benötigen, von der aus sie ihre Umwelt erkunden können (Horn et al., 2013). Ohne diese Basis sinkt ihre Lern- und Anpassungsfähigkeit.
Emotionen – mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede
Auch im emotionalen Bereich sind die Parallelen frappierend:
Hunde zeigen Freude, Angst, Frustration, Empathie und sogar Ansätze moralischer Emotionen wie Fairness (Range et al., 2009).
Ihr Gesichtsausdruck verändert sich in Abhängigkeit von sozialer Interaktion (Nagasawa et al., 2015).
Oxytocin, das Bindungshormon, steigt beim Blickkontakt zwischen Hund und seiner Bezugsperson – vergleichbar mit der Interaktion zwischen Eltern und Kindern (Nagasawa et al., 2009).
Die Forschungslage lässt keinen Zweifel: Hunde verfügen über ein reiches emotionales Innenleben, das eng mit sozialem Lernen und Bindung verwoben ist.
Übertragung aus Pädagogik und Psychologie
Viele Methoden der Humanpädagogik und -psychologie sind längst in die Kynologie eingeflossen:
Bindungstheorie: Grundlage für das Verständnis des Mensch-Hund-Verhältnisses.
Traumaforschung: Erkenntnisse über Stress, Trigger und Resilienz finden direkte Anwendung im Training von Hunden aus dem Tierschutz.
Lerntheorie: Konzepte wie Verstärkung, Modelllernen und Frustrationstoleranz stammen ursprünglich aus der Psychologie des Menschen.
Bedürfnisorientierung: Der Wandel in der Kindererziehung hin zu mehr Empathie und Respekt spiegelt sich in modernen Trainingsansätzen für Hunde wider.
Wandel im Umgang – bei Kindern und Hunden
Noch vor wenigen Jahrzehnten war es in der Pädagogik üblich, Kinder mit Strafe, Härte und Autorität „zu formen“. Schläge, Isolation und Beschämung waren gesellschaftlich akzeptierte Mittel. Heute gilt das als überholt und schädlich: Bedürfnisorientierung, positive Verstärkung und sichere Bindung sind Leitlinien moderner Pädagogik.
Einen vergleichbaren Wandel durchlaufen das Training und der Umgang mit Hunden. Auch hier galt lange, dass Härte, Dominanz und Strafe als „notwendig“ betrachtet wurden. Doch die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind eindeutig: Gewalt zerstört Vertrauen und führt zu Angst und Verhaltensproblemen (Blackwell et al., 2008; Vieira de Castro et al., 2020).
Die Parallele liegt auf der Hand: So wie sich der Umgang mit Kindern von autoritärer Härte zu empathischer Begleitung gewandelt hat, muss sich auch das Hundetraining weiterentwickeln – hin zu Respekt, Empathie und wissenschaftlich fundierter Bedürfnisorientierung.
Fazit
Hunde sind keine Kinder – aber sie ähneln ihnen in Bindungsverhalten, emotionalen Bedürfnissen und Abhängigkeiten mehr, als viele denken. Wer den Vergleich kategorisch ablehnt, verkennt die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte.
Der Wandel in der Pädagogik zeigt: Strafe und Härte sind Relikte vergangener Zeiten. Auch im Hundetraining ist es an der Zeit, konsequent auf Empathie, Bindung und bedürfnisorientiertes Lernen zu setzen.
Literatur
Ainsworth, M. D. S. (1970). Attachment, exploration, and separation: Illustrated by the behavior of one-year-olds in a strange situation. Child Development, 41, 49–67.
Beerda, B., Schilder, M. B. H., van Hooff, J. A. R. A. M., & de Vries, H. W. (1999). Manifestations of chronic and acute stress in dogs. Applied Animal Behaviour Science, 64(2), 107–119.
Blackwell, E. J., Twells, C., Seawright, A., & Casey, R. A. (2008). The relationship between training methods and the occurrence of behavior problems, as reported by owners, in a population of domestic dogs. Journal of Veterinary Behavior, 3(5), 207–217.
Horn, L., Range, F., & Huber, L. (2013). Dogs’ attention towards humans depends on their relationship, not only on social familiarity. Animal Cognition, 16, 435–443.
Nagasawa, M., et al. (2009). Oxytocin-gaze positive loop and the coevolution of human-dog bonds. Science, 348(6232), 333–336.
Nagasawa, M., et al. (2015). Human facial expressions trigger oxytocin release in dogs. Hormones and Behavior, 84, 30–34.
Prato-Previde, E., Custance, D., Spiezio, C., & Sabatini, F. (2003). Is the dog–human relationship an attachment bond? An observational study using Ainsworth’s Strange Situation. Behaviour, 140(2), 225–254.
Range, F., Horn, L., Virányi, Z., & Huber, L. (2009). The absence of reward induces inequity aversion in dogs. PNAS, 106(1), 340–345.
Topál, J., Miklósi, Á., Dóka, A., & Csányi, V. (1998). Attachment behavior in dogs (Canis familiaris): A new application of Ainsworth’s (1969) Strange Situation Test. Journal of Comparative Psychology, 112(3), 219–229.
Vieira de Castro, A. C., Barrett, J., de Sousa, L., & Olsson, I. A. S. (2020). Carrots versus sticks: The relationship between training methods and dog-owner bond. Applied Animal Behaviour Science, 225, 104964.
