Der Hund ist kein Wolf – Ein Blick auf die Domestikation.
Warum Domestikation entscheidend ist
Der Hund (Canis lupus familiaris) ist das älteste Haustier des Menschen und seit Jahrtausenden eng mit uns verbunden. Noch immer begegnet man der Annahme, Hunde seien „gezähmte Wölfe“, etwa in Form der “Leitwolftheorie”, “Rudelführung“ oder anderem aversiven Unsinn, der sich auf die seit Jahrzehnten widerlegte Dominanztheorie stützt. Diese Vorstellung wird durch aktuelle Forschung widerlegt: Die Domestikation hat den Hund zu einem eigenständigen Lebewesen geformt – biologisch, kognitiv und sozial.
Was bedeutet Domestikation?
Domestikation bezeichnet einen evolutionären Prozess unter menschlicher Einflussnahme, in dem aus einer Wildform über viele Generationen hinweg eine Haustierform hervorgeht. Dieser Prozess umfasst genetische, morphologische und verhaltensbiologische Veränderungen (Feddersen-Petersen, 2004).
Charakteristisch sind:
genetische Selektion auf Kooperationsfähigkeit und geringe Scheu (Trut, 1999),
morphologische Anpassungen wie verkürzte Schnauzen oder veränderte Fellfarben (Morey, 1994),
verhaltensbiologische Veränderungen, insbesondere höhere Frustrations- und Stresstoleranz (Hare & Tomasello, 2005).
Hund und Wolf: Gemeinsamer Ursprung, getrennte Entwicklung
Molekulargenetische Untersuchungen zeigen, dass Hunde und heutige Wölfe einen gemeinsamen Vorfahren teilen, der vor mindestens 15.000 Jahren lebte (Freedman et al., 2014). Dieser Vorfahr existiert heute nicht mehr. Hunde stammen daher nicht direkt vom heutigen Wolf ab, sondern entwickelten sich in einer eigenen Linie - parallel zu diesem.
Archäologische Funde belegen frühe Haushunde vor ca. 14.000 Jahren (Larson et al., 2012).
Es gibt Hinweise auf noch ältere Funde, die bis auf 30.000 Jahre datiert werden (Germonpré et al., 2009).
Unterschiede im Sozialverhalten
Wölfe
Leben in Familienverbänden (= Rudeln), die durch Geburt und Verwandtschaft definiert sind (Mech & Boitani, 2003).
Ihre Kooperation dient Jagd, Aufzucht und Verteidigung des Territoriums.
Wölfe leben somit nicht nicht in dominanzabhängigen Hierarchien.
Hunde
Leben zumeist in flexiblen, variablen Gruppen, die häufig von Menschen beeinflusst oder durch Umweltbedingungen geprägt sind (Bonanni & Cafazzo, 2014).
Freilebende Hunde bilden kooperative Zweckgemeinschaften ohne zwingende Verwandtschaftsbeziehungen (Cafazzo et al., 2010).
Auch Hunde leben somit nicht nicht in dominanzabhängigen Hierarchien.
Hund und Mensch können kein Rudel bilden, sondern leben in einer interspezifischen Sozialgemeinschaft.
Spezialisierung auf den Menschen
Die Domestikation führte zu einer einzigartigen Anpassung:
Hunde bevorzugen Menschen als Sozialpartner gegenüber Artgenossen (Topál et al., 1998).
Sie können u.a. menschliche Zeigegesten interpretieren, eine Fähigkeit, die bei Wölfen kaum entwickelt ist (Miklósi et al., 2003).
Hunde sind sensibel für Blickrichtung, Mimik und emotionale Zustände von Menschen (Custance & Mayer, 2012; Kaminski & Nitzschner, 2013).
Diese Spezialisierung ist ein zentrales Ergebnis der Koevolution von Hund und Mensch.
Physiologische und biologische Unterschiede
Neben Verhalten und Sozialstruktur bestehen auch deutliche biologische Unterschiede:
Hirnvolumen: Hunde besitzen ein relativ kleineres Gehirnvolumen als Wölfe, insbesondere in Arealen für Jagd- und Fluchtverhalten (Kruska, 2005).
Stressverarbeitung: Hunde zeigen eine höhere Stresstoleranz und geringeres Scheuverhalten (Hare & Tomasello, 2005).
Verdauung: Hunde entwickelten die Fähigkeit, stärkehaltige Nahrung effizient zu verwerten – eine Anpassung an menschliche Ernährungsumfelder (Axelsson et al., 2013).
Körperbau: Hunde weisen weniger Muskulatur und Bindegewebe, aber einen höheren Fettanteil auf (Coppinger & Coppinger, 2001).
Es gibt noch viele weitere Unterschiede, u.a. in der kognitiven und körperlichen Entwicklung, aber auch in vielen weiteren Bereichen.
Fazit: Der Hund ist kein Wolf
Die Forschung verdeutlicht:
Hund und Wolf teilen einen gemeinsamen Vorfahren, entwickelten sich jedoch in getrennten Linien.
Die Domestikation führte zu fundamentalen genetischen, physiologischen und verhaltensbiologischen Veränderungen.
Der Hund ist ein eigenständiges, auf den Menschen geprägtes Lebewesen – kein domestizierter Wolf, wie er heute beobachtet werden kann.
Der Hund ist kein Wolf. Er war es auch nie - nicht, seitdem er Hund geworden ist.
Quellenbelege
Axelsson, E. et al. (2013). The genomic signature of dog domestication reveals adaptation to a starch-rich diet. Nature, 495, 360–364.
Bonanni, R., & Cafazzo, S. (2014). The social organisation of free-ranging dogs. In A. Horowitz (Hrsg.), Domestic Dog Cognition and Behavior. Springer.
Cafazzo, S. et al. (2010). Dominance in relation to age, sex, and competitive contexts in a group of free-ranging domestic dogs. Behavioral Ecology, 21(3), 443–455.
Coppinger, R., & Coppinger, L. (2001). Dogs: A Startling New Understanding of Canine Origin, Behavior & Evolution. Scribner.
Custance, D., & Mayer, J. (2012). Empathic-like responding by domestic dogs to distress in humans. Animal Cognition, 15(5), 851–859.
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Kaminski, J., & Nitzschner, M. (2013). Do dogs get the point? A review of dog-human communication ability. Learning and Motivation, 44(4), 294–302.
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Mech, L. D., & Boitani, L. (2003). Wolves: Behavior, Ecology, and Conservation. University of Chicago Press.
Miklósi, Á. et al. (2003). A simple reason for a big difference: wolves do not look back at humans, but dogs do. Current Biology, 13(9), 763–766.
Morey, D. F. (1994). The early evolution of the domestic dog. American Scientist, 82(4), 336–347.
Topál, J. et al. (1998). Attachment behavior in dogs (Canis familiaris): A new application of Ainsworth’s (1969) strange situation test. Journal of Comparative Psychology, 112(3), 219–229.
Trut, L. N. (1999). Early canid domestication: The farm-fox experiment. American Scientist, 87(2), 160–169.
