Das „Leitwolfprinzip“ – eine längst widerlegte Theorie
Wie Hunde wirklich lernen
Hunde lernen nicht über Rangordnungen oder Dominanz, sondern durch Verknüpfung, Wiederholung und Motivation. Sie benötigen Orientierung, Verlässlichkeit, bedürfnisorientiertes Training und Schutz vor Überforderung. Beziehungen entstehen nicht durch Härte, sondern durch Verständlichkeit, Sicherheit und lerntheoretisch fundierte Begleitung (Bensky et al., 2013; O’Heare, 2014).
Ideologische Grundlagen
Das Leitwolfprinzip geht davon aus, dass Hunde Grenzen testen, nach Kontrolle streben und durch Unterordnung sowie Härte geführt werden müssten. Diese Deutung folgt keiner wissenschaftlichen Grundlage, sondern ist ein Konstrukt, das Zwang legitimiert.
Dominanzdenken – wissenschaftlich widerlegt
Die Vorstellung, Hunde oder Wölfe bräuchten einen „souveränen Rudelführer“, ist durch zahlreiche Studien widerlegt. Dominanzdenken erklärt weder Hundeverhalten noch Wolfverhalten. Forschung zeigt klar: Wölfe wie Hunde leben in flexiblen, kooperativen Strukturen, nicht in starren Hierarchien (Mech, 1999; O’Heare, 2008; Ziv, 2017; Herron et al., 2009).
Der Ursprung des Alphawolf-Mythos
Das Leitwolfprinzip beruht auf Beobachtungen von Wölfen in Gefangenschaft. Dort lebten fremde, nicht verwandte Tiere unter Stress auf engem Raum. Die beobachteten Auseinandersetzungen waren Ausdruck sozialer Überforderung, keine natürlichen Verhaltensweisen. Trotzdem wurde dieses Bild fälschlicherweise sogar noch auf Hunde übertragen (Schenkel, 1947; Mech, 1999).
Selbstkorrektur des Begründers
Rudolf Schenkel, der die Dominanztheorie maßgeblich prägte, revidierte später selbst seine Schlussfolgerungen. Dennoch blieb die Vorstellung bestehen, da sie einfache Erklärungen bot und den Einsatz von Strafe rechtfertigte. Dass die Erklärungen und Rechtfertigungen jeglicher Grundlage entbehren, spielt bis heute für viele keine Rolle.
Wie Wolfsrudel tatsächlich leben
Freilebende Wolfsrudel bestehen aus Elterntieren und ihren Nachkommen. Ihre sozialen Strukturen beruhen auf Fürsorge, Bindung und Kooperation – nicht auf Dominanz. Das Leitwolfprinzip projiziert ein unzutreffendes Machtmodell auf soziale Systeme, die in Wirklichkeit durch Verbundenheit getragen werden (Mech, 1999; Smith et al., 2014).
Hunde sind keine Wölfe
Obwohl Hunde und Wölfe gemeinsame Vorfahren haben, unterscheiden sie sich heute deutlich in Verhalten, Kognition und sozialer Anpassungsfähigkeit. Über 15.000 Jahre Domestikation haben Hunde zu eigenständigen Sozialpartnern des Menschen gemacht. Sie mit Wölfen gleichzusetzen, wird ihrer Realität nicht gerecht (Udell et al., 2010; Miklósi & Topál, 2013).
Dominanz ist keine Charaktereigenschaft
Verhaltensprobleme entstehen nicht, weil Hunde „die Chefrolle übernehmen“ wollen, sondern weil Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, Lernprozesse nicht verstanden oder emotionale Zustände übersehen werden. Dominanz ist keine Charaktereigenschaft, sondern ein situativ-dynamisches Geschehen - und somit innerhalb aversiver Trainingsmethoden eine unzutreffende Zuschreibung (O’Heare, 2009; Yin, 2009).
Folgen des “Leitwolftrainings”
Methoden wie Alphawurf, Blockieren, Ignorieren oder Raumverweise beruhen auf Einschüchterung und Zwang. Sie fördern Abwehrverhalten, Angst und Aggression. Unter dem Schlagwort „klare Führung“ entsteht in Wahrheit kontrollbasierter Druck, der Risiken schafft und so Gefahren im Miteinander für Hund und Mensch erhöht (Herron et al., 2009; Ziv, 2017).
Fazit
Das Leitwolfprinzip hat keine wissenschaftliche Grundlage. Es entstand aus Fehlinterpretationen von Wolfsverhalten in Gefangenschaft und wird trotz eindeutiger Gegenbelege weiter genutzt. Für ein tierschutzgerechtes und nachhaltiges Training sind Konzepte erforderlich, die auf Empathie, Lerntheorie und respektvoller Zusammenarbeit beruhen.
Literatur:
Bensky, M. K., Gosling, S. D., & Sinn, D. L. (2013). The world from a dog’s point of view: A review and synthesis of dog cognition research. Advances in the Study of Behavior, 45, 209–406.
Herron, M. E., Shofer, F. S., & Reisner, I. R. (2009). Survey of the use and outcome of confrontational and non-confrontational training methods in client-owned dogs showing undesired behaviors. Applied Animal Behaviour Science, 117(1-2), 47–54.
Mech, L. D. (1999). Alpha status, dominance, and division of labor in wolf packs. Canadian Journal of Zoology, 77(8), 1196–1203.
Miklósi, Á., & Topál, J. (2013). What does it take to become ‘best friends’? Evolutionary changes in canine social competence. Trends in Cognitive Sciences, 17(6), 287–294.
O’Heare, J. (2008). Dominance Theory and Dogs. Ottawa: BehaveTech Publishing.
O’Heare, J. (2009). Aggressive Behavior in Dogs: A Comprehensive Technical Manual for Professionals. Ottawa: BehaveTech Publishing.
O’Heare, J. (2014). Empirical Basis for Canine Training. Ottawa: BehaveTech Publishing.
Schenkel, R. (1947). Expressions studies on wolves: Captivity observations. Basel: Helbing & Lichtenhahn.
Smith, D. W., Stahler, D. R., & MacNulty, D. R. (2014). Yellowstone Wolf Project: Annual Report 2013. National Park Service.
Yin, S. (2009). Dominance vs. Leadership in Dog Training. San Francisco: CattleDog Publishing.
Ziv, G. (2017). The effects of using aversive training methods in dogs—A review. Journal of Veterinary Behavior, 19, 50–60.